Altnordische Mythen und Sagen


Yggdrasil

Wo jetzt der Boden des Atlantischen Ozeans ist, zwischen Amerika und Europa, war vor Urzeiten Land, während unsere Gebiete weithin mit Wassermassen bedeckt waren.

In diesem Lande wohnten unsere Vorfahren. In Wahrheit stammt der größte Teil der europäischen Bevölkerung nicht etwa aus dem Osten, sondern aus dem Westen und ist die Nachkommenschaft der atlantischen Bevölkerung. Von jenem Lande, der alten Atlantis, wo unsere Vorfahren und wir selbst in früheren Inkarnationen gewohnt haben, wanderten sie weit hinein nach Osten, als die Fluten, die jetzt den Atlantischen Ozean bilden, diesen früheren Erdteil verschlungen hatten.

Im letzten Drittel der atlantischen Zeit gliederte sich im Nordosten – in der Gegend des heutigen Irland – ein kleines Häuflein heraus aus der Bevölkerung, die als die damals vorgeschrittenste sich darstellt. Das ganze atlantische Land war bedeckt mit schweren, dichten Nebelmassen und wird deshalb in der Erinnerung der germanischen Völkerschaften «Niflheim» genannt…………..

Das Land war bedeckt mit weiten Wassernebelmassen; diese Wassernebelmassen waren von verschiedener Dichte in der ersten und in der letzten atlantischen Zeit, namentlich waren sie in der Nähe des heutigen Irland anders als in den sonstigen Gegenden. Die Wasser und Nebelmassen waren zuerst warm und heiß. Im südlichen Teil der Atlantis waren sie noch warm, zum Teil heiß, wie warme, heiße Rauchmassen; gegen Norden zu waren sie kälter. Insbesondere gegen das Ende der atlantischen Zeit trat eine mächtige Abkühlung ein. Nun war es gerade diese Abkühlung der Nebelmassen, diese nordische Kälte, welche die neue Anschauung, das neue Seelenleben
aus den Menschen herauszauberte……..

Der Atlantier in der Nähe Irlands fühlte Fähigkeiten in sich hineinströmen, die ihn so durchdrangen, daß er fähig wurde, mit seinen Sinnesorganen die Dinge draußen zu sehen, zu hören und so weiter. Er empfand das so, daß er es der Abkühlung der Luftmassen zu verdanken hatte.
Zu dem Wahrnehmen äußerer Gegenstände durch Sinnesorgane gehören Nerven. Zu jedem unserer Sinnesorgane gehen Nerven vom Gehirn aus. Augennerven, Geruchs-, Gehörnerven und so weiter haben wir. Diese Nerven, die heute den Menschen fähig machen, die Sinneseindrücke sich zum Bewußtsein zu bringen, waren untätig, bevor die äußere sinnliche Anschauung der Dinge da war. Sie vermittelten nicht das äußere Anschauen, sie hatten eine innere Aufgabe. Der atlantische Mensch sah damals die Kräfte an sich herankommen, die diese Nerven in ihm zu Sinnesorganen machten. Er empfand diese ganze Situation so, wie wenn in den Kopf von außen hineinfluteten die Strömungen, welche dann seine Nerven im Kopf durchsetzten.

Nun gibt es unter den Nerven im Kopfe, die dazumal tätig wurden und die wir heute noch anatomisch nachweisen können, zwölf Paare, und zwar zehn Paare, die vom Kopfe ausgehend sich gliedern, um die einzelnen Sinnesorgane in Tätigkeit zu setzen. Wenn Sie zum Beispiel die Augen bewegen, so sind dazu die Augenmuskelnerven da und nicht der Sehnerv. Also zehn Paare, die zu den einzelnen Sinnesorganen gehen, und zwei Paare, die tiefer hinuntergehen und die den Verkehr vermitteln zwischen dem sinnlichen Wahrnehmen und der Gehirntätigkeit. Der Atlantier fühlte zwölf Strömungen in sich hineingehen, in sein Gehirn und hinunter in seinen Leib. Das sah er. Was Sie jetzt als Nerven in sich haben, wurde für sein Wahrnehmen erzeugt durch zwölf in ihn hineingehende Ströme. Wenn nun diesem Umstände, daß die Luft sich abkühlte und das ganze Niflheim ein kaltes Land wurde, die zwölf Nervenstränge verdankt werden, so war doch noch etwas anderes dazu notwendig, um die menschlichen Sinnesorgane zu gestalten. Bevor die menschlichen
Sinnesorgane gestaltet waren, hatte auch das Herz noch eine ganzandere Aufgabe. Die Blutzirkulation muß eine andere gewesen sein bei einem Wesen, das sich hellseherisch, geistig die Farben und Töne der Umgebung vor die Seele zaubert, als bei dem atlantischen Menschen, dem die äußere Welt allmählich für die äußeren Sinne wahrnehmbar auftauchte. Diese Umgestaltung des Herzens hat niemals kommen können von den kalten Teilen der Atlantis. Sie mußte dadurch kommen, daß die menschliche Organisation von anderswoher angefacht wurde. Die Umgestaltung des Herzens hat der wärmere, südliche Erdstrich der Atlantis bewirkt.

Sie müssen sich das so vorstellen, daß beide Strömungen auf den Atlantier eingewirkt haben, die kalten Ströme des Nordens und die warmen Ströme des Südens……

Der Kopf des Atlantiers war ganz anders gebildet als der Kopf des Menschen von heute. Gerade was diese Kräfte der
zwölf Ströme des Nordens bewirkt haben, das hat den Menschen zum Denker gemacht. Und die warme Strömung des Südens hat ihm sein Gefühl, seine Empfindungsart und auch seine heutige Sinnlichkeit gegeben. Das, was das Blut dadurch erhielt, strömte in das Herz ein, das dadurch ein ganz anderes Organ geworden ist. Dadurch, daß das Blut, der den Menschen ernährende Saft, die ganze Blutzirkulation, anders geworden ist, mußte auch die äußere Ernährung des Leibes eine andere werden. So können wir sagen: Von zwei Seiten her ist an dem Menschen gearbeitet worden in jener Zeit. Es ist sein physischer Leib so umgeschaffen worden, daß er auf der einen Seite der Träger des Gehirnes werden konnte, und auf der anderen Seite so, daß der Leib mit dem Blute versorgt worden ist, das
dieser umgestaltete Mensch nötig hatte.

Diese Vorgänge stellten sich der Anschauung des Atlantiers im Bilde dar. In der astralen Anschauung stellt sich ja alles im Bilde dar.
Das Einfließen der geistigen Strömungen, die unsere Nerven heranbildeten, stellte sich ihm dar als zwölf aus dem kalten Norden herunterkommende Ströme; und das, was das Herz umbildete, stellte sich ihm dar als das Feuer, das von Süden heraufkam. Das, was den physischen Kopf umbildete zu dem des heutigen anschauenden Menschen, stellte sich ihm dar als das Bild des Urmenschen, und das Ernährende im Menschen stellte sich ihm dar als ein anderes Bild, als das Bild des sich ernährenden Tieres.

Die alten Priesterweisen sprachen zu dem Volke auf folgende Weise:

Bevor ihr habt hineinsehen können in diese Welt, die erfüllt ist von Pflanzen und Tieren, von all den Gegenständen, die ihr jetzt draußen unterscheiden könnt, war nichts da als ein finsterer, gähnender Raum, wie ein Abgrund. Ihr sähet die Bilder in den Raum hinein. Aber alles das, was jetzt da ist, ging hervor aus diesem Abgrund, aus Ginnungagap, – das ist das alte germanische Chaos. Nun erzählte man weiter: Von Norden her flössen zwölf Ströme, und von Süden her kamen die Feuerfunken.

Dadurch, daß die Feuerfunken des Südens sich verbanden mit den zwölf Strömen des Nordens, entstanden zwei Wesen: der Riese Ymir und die Kuh Audhumbla.

Was ist nun der Riese Ymir? Ymir ist der denkende Mensch, der entstanden ist, sich herausgebildet hat aus dem Ghaos – aus Ginnungagap; und die Kuh Audhumbla ist das neue Ernährende und das neue Herz. In der menschlichen Gestalt sind vereinigt der RieseYmir und die Kuh Audhumbla.

Zwei Welten entstanden: das kalte Niflheim und das heiße,flammensprühende Muspelheim. Niflheim entläßt die zwölf Ströme, Muspelheim entläßt die Feuerfunken.

Wir wissen, daß damals, in jenem Moment, wo sich der Ätherleib des Kopfes mit dem physischen Kopf vereinigte, das Ich entstand als ein klares, selbstbewußtes Ich. Vorher konnte der Mensch zu sich nicht «Ich» sagen. Der Mensch fühlte sich zwar schon als ein Ich-Wesen, aber es war ihm noch nicht das Ich-Bewußtsein aufgegangen. Mit diesem Ich-Werden zusammen mußte der Mensch erkennen, was sich da umgestaltet und herausgebildet hatte. Er war im höheren Sinne ein Ich geworden.

Es war das entstanden, was von den zwölf Strömen kam, das ist das, was seinen Kopf mit den Gehirnnerven durchsetzte. Es war aber auch das entstanden, was seiner Natur nach nicht mit dem Kopf zusammenhängt, dasjenige, was seiner Natur nach abstammt von der Kuh Audhumbla. Diese zwei Naturen haben sich dazumal zusammengefügt;

Alles, was von den zwölf Strömen des Nordens kam, ist eingeschlossen im Schädel und im Rückenmark. Alles
andere ist angesetzt; die Rippen und die darunterliegenden Organe sind das, was von Süden her kam aus den Feuerfunken, die Kuh Audhumbla; es hat sich herausgebildet aus einem ganz anderen Menschheitszustande und angegliedert an das Frühere.

Was hat sich da gebildet? Das eine, das sich gebildet hat aus einem ganz anderen Menschheitszustande heraus ist das geschlechtliche Prinzip. Zwar war das Geschlechtsprinzip schon gebildet im alten Lemurien, aber erst mit dem Auftreten des Ich-Bewußtseins ist es dem Menschen auch zum Bewußtsein gekommen. Vor diesem Zeitpunkte war der Mensch mehr oder weniger unbewußt; der Geschlechtsakt ging wie in einem Traumzustande, einem dämmerhaften Zustande vor sich.

Das zweite, was dem Menschen gegeben wurde, war die Gestalt des Herzens selber. Und ein drittes, das ihm gegeben wurde, das nach und nach in dieser Zeit sich herausbildete, das war die Sprache.

Die Sprache ist auch ein Geschöpf der Atlantis. Ohne die Sprache können Sie sich nicht die Entwickelung des Denkens, der höheren Geistigkeit vorstellen. Und auch ohne das umgestaltete Herz und ohne das veränderte, das bewußte geschlechtliche Prinzip können Sie sich dies nicht vorstellen. So erscheint der Mensch merkwürdig gegliedert. Sein Denken, sein äußeres Anschauen sind eingegliedert worden seinem Kopfe. Beigegeben ist diesem ein dreifaches: das bewußte Geschlechtsprinzip, das bewußte Herzprinzip und die bewußte Sprache, die der Ausdruck seiner inneren Wesenheit ist.
Machen wir uns nun gegenwärtig, wie sich dies der astralen Anschauung darstellt.

Der astrale Seher sieht dies wiederum in einem Bilde, wie ein Baum stellt es sich ihm dar, ein Baum, der drei Wurzeln hat. Die eine Wurzel ist die Geschlechtlichkeit, die zweite ist das Herz und die dritte die Sprache. Diese drei Wurzeln sind in Korrespondenz mit dem Geistigen, dem Kopfe. Fortwährend gehen Nervenströmungen hin und her.

Was im Menschen entstanden ist und heute in ihm lebt – die Ich-Persönlichkeit -, entspringt aus drei Quellen. Das Ich, das früher schon da war, aber jetzt erst zum Bewußtsein gekommen ist, stammt aus Niflheim.

Es ist aber eine Schlange da, die fortwährend an der Wurzel nagt, die aus dieser Quelle stammt, Niddhögr ist ihr Name. Hellseherisch kann man tatsächlich diese Schlange nagen sehen. Die Ausschreitungen des Geschlechtsprinzipes, das nicht im Zaume gehalten wird, nagen an dieser Wurzel des Menschen.

Die zweite Wurzel ist das Herz. Aus ihm stammt das neue Leben des Menschen. Alles, was der Mensch tut, tut er unter dem Antrieb des Herzens. Er fühlt, was ihn glücklich oder unglücklich macht. Er fühlt die Gegenwart, er fühlt aber auch dasjenige, mit dem er in die Zukunft hineinwächst; das eigentliche Schicksal des Menschen wird vom Herzen empfunden.

Darum sagten die Priesterweisen: An der Quelle, aus der diese Wurzel stammt, sitzen drei Nornen und spinnen die Fäden des Schicksals.

Die Nornen sind Urd, die Herrin des Vergangenen, Verdhandi, die um die Gegenwart, um das Seiende und Werdende weiß, und Skuld, die kennt, was in der Zukunft sein soll.

«Skuld» ist dasselbe Wort wie «Schuld». Die Zukunft entsteht dadurch, daß aus der Gegenwart etwas weiter hinausgeht, das abgetragen werden muß.

An der dritten Wurzel ist Mimirs Quelle, Mimir, der den Weisheitstrank trinkt. Das ist dasjenige, was sich als Sprache ausdrückt.
Und oben ragen die Wipfel des Baumes ins Geisterland hinein, und aus dem Geistigen herunter kommen Tropfen des befruchtenden Nervenfluidums. Das drückten die Priesterweisen so aus, daß sie sagten: Da oben in den Wipfeln der Weltesche weidet eine Ziege, von deren Geweih es fortwährend heruntertropft. – So wird das Untere fortwährend von dem Oberen befruchtet.

Und ein Eichhörnchen läuft von oben nach unten und von unten nach oben und trägt Zankesworte hin und her: der Kampf der niederen gegen die höhere Natur.

So stellt es die germanische Sage dar. Sie sagt: Der neue Mensch in der neuen Welt gleicht einem Baum, einer Esche, die drei Wurzeln hat. Die erste Wurzel geht nach Niflheim, in das eiskalte düstere Urland. Inmitten von Niflheim war der unausschöpfliche Brunnen Hwergelmir; zwölf Ströme entsprangen aus ihm, sie flössen durch die ganze Welt. Die zweite Wurzel ging zum Brunnen der Nornen Urd, Verdhandi und Skuld; sie saßen an seinen Ufern und spannen die Fäden des Schicksals. Die dritte Wurzel ging zu Mimirs Brunnen.

Yggdrasil nannte man die Weltesche, in der sich die Weltenkräfte zusammengezogen hatten. Ein Mensch wird abgebildet in dem Moment, wo er sich seines Ich bewußt werden soll, wo aus seinem Innern heraustönen soll das Wort «Ich».

«Yggdrasil» ist soviel wie «Ich-Träger». Ich-Träger ist dieser Baum. «Ygg» ist «Ich» und «drasil» ist derselbe Wortstamm wie «tragen».

Darstellung der Weltenesche Yggdrasil mit den verschiedenen Tieren, die in und bei ihr leben, in einer isländischen Handschrift des 17. Jahrhunderts.

Yggdrasil